Seit nun 6 Wochen leben im „Haus Pohle“ Flüchtlinge unterschiedlicher Nationalität. Auf dringenden Wunsch der Bewohner, die Deutsche Sprache zu erlernen, hat sich eine Kontaktgruppe gebildet, die regelmäßig Dienstag- und Donnerstagnachmittag stattfindet, um erste Deutschkenntnisse zu vermitteln, Hilfe bei dringenden Fragen zu leisten, Freizeitaktivitäten anzubieten, aber vor allem in Kontakt mit den Bewohnern zu kommen. So sitzen wir, ein Kernteam von vier engagierten Ehrenamtlerinnen und einigen Helfern, mit an die dreißig Personen zusammen.
Eine Situation, die ich letzte Woche erlebt habe, geht mir seitdem durch den Kopf …

Heute steht auf dem Plan, die Arbeitsblätter mit der Uhrzeit und den Farben den Bewohnern zu vermitteln. Johanna zeigt auf einen Bewohner mit einem roten Pullover und sagt laut und deutlich: „Das ist rot!“ Voller Eifer wird von den `Schülern` wiederholt: „Das ist rot!“ Johanna malt auf eine kleine Tafel eine Sonne und sagt: „Die Sonne ist gelb!“ Und erneut wird wiederholt: „Die Sonne ist gelb!“ Das Wort `Wasser` haben sie schon gelernt und Johanna sagt: „Das Wasser ist blau!“ Doch statt eines ausdruckstarken Wiederholens, zögern die Bewohner, schauen sich gegenseitig verunsichert an und blicken zu Johanna. Irritiert wiederholt sie: „Ja, das Wasser ist blau!“ Nun ein erst vorsichtiges, dann vehementes Widersprechen: „No, Wasser nicht blau!“ Nach lebendigem Austausch stellt sich heraus, dass für Syrer Wasser nicht blau ist. Mit großer Selbstverständlichkeit belehren sie uns Deutsche: „Wasser weiss!“ Während der aufkommenden Diskussion, ob Wasser nun blau, weiss oder durchsichtig/farblos ist, haben wir alle Spass.

Diese Szene begleitet mich seither in meinen Gedanken, da sie mir Vieles nochmal bewußt macht. Es geht nicht um richtig oder falsch. Wir alle nehmen etwas wahr und denken, beurteilen, definieren und bewerten dies aus unserem eigenen Erleben heraus, aus unserer Sichtweise, die in unserem Leben durch unsere Familie, Kultur und Umwelt geprägt wurde. Genauso geht es den Menschen, die aus Syrien, dem Irak, Somalia, Ghana oder Afghanistan zu uns kommen. Sie haben ihre eigene Sicht der Dinge, ihre eigene Wahrheit, die geprägt ist von deren Realität, ihrer Kultur und ihren Erlebnissen. Und so wird mir wieder mal vor Augen geführt, dass es viele Wahrheiten gibt, die alle ihre Berechtigung haben, und dass keiner für sich den Anspruch erheben kann, die einzige Wahrheit zu kennen.

Ich hoffe sehr, dass wir mit dieser Haltung und Überzeugung mit den Menschen, die zu uns nach Deutschland kommen, um hier ein Leben in Frieden führen zu können, gut auskommen, und uns sogar gegenseitig bereichern können.

Das Wasser ist dann für uns nicht einfach nur blau und für Syrer nicht einfach nur weiß. Gemeinsam kommen wir auf der Suche nach den Farben des Wassers weiter!

Ein Bericht von Mechthild Sünder-Tegtmeyer vom November 2015.